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mein neffe ist ein secondo - so wie ich
october 2022 


geschichte wiederholt sich.
geschichte ist iterierbar.

geschichte ist zyklisch.

mein neffe feierte seinen ersten geburtstag im kosovo – në atdhe. [in seinem heimatland.]
auch er ist nicht da geboren, sondern über tausend kilometer weit entfernt.
viele autostunden. gut zwei flugstunden. auch er hat diese strecke bereits zurück gelegt.

hin und zurück. und wird dies in den kommenden jahren noch des öfteren tun.

erst seit dieser geburtstagsfeier realisiere ich, dass er auch ein secondo ist – wie ich.
nur fünfundzwanzig jahre später. wird auch er, wie viele menschen der zweiten generation, diesselben fragen gestellt bekommen?
ku osht ma mirë? ktu a atje? [wo ist’s besser? hier oder dort?]

-- obwohl: die ausgangslage ist nicht ganz die gleiche.

a. ist auch sohn von migrant:innen. seine eltern haben beide einen abschluss von der universität in prishtinë. sein vater in soziologie, seine mutter in anglistik. vor gut drei jahren sind sie nach deutschland ausgewandert. der vater hat ein arbeitsvisum erhalten. nun arbeitet er sechs tage die woche auf der baustelle. ein paar monate später zog meine cousine nach. bald darauf kam a. schon auf die welt.  

ich bin auch sohn von migrant:innen. meine eltern haben beide keinen abschluss einer universität. mein vater brach sein chemie-studium ab und flüchtete während den eskalationen der studierendenrevolten in prishtinë von 1989. als asylant in der schweiz aufgenommen, hiess es zuerst: schwarzarbeit. dann mit einem bestimmten aufenthaltsausweis regelkonform auf der baustelle arbeiten. meine mutter hatte ihr abitur gemacht, und reiste ein paar jahre später zu meinem vater. bald darauf kam meine schwester zur welt. dann, zweieinhalb jahre später, ich.

geschichte wiederholt sich.
geschichte ist iterierbar.

geschichte ist zyklisch.

das gut ausgebildete junge erwachsene aus dem kosovo ins ausland abwandern ist schon länger thema. nicht nur zu schon vergangen zeitpunkten:
in den späten 80er jahre, dann mitte/ende 90er jahre während des krieges, und zuletzt im jahr 2010, während des grossen exodus, bei dem circa zehn prozent der bevölkerung des kosovos das land verliessen.
in den letzten jahren ging es stetig weiter. die zahlen nehmen zu.

dies ist auch thema beim kaffee in der stadt mit meinem cousin und seinen freunden.
sie erzählen davon, wie ihr freundeskreis schrumpft.
einige am tisch sind schon ausgewandert. die, die noch hier sind, haben bei verschiedenen botschaften oder konsulaten ihre dokumente eingereicht.
nun warten sie. sie haben schon kontakte zu bekannten oder freunden, die ihnen helfen könnten. mit der wohnung, dem arbeitsplatz – immer sind es berufe auf der baustelle – und den papieren. sie warten und warten. sie warten immer noch.
       die gleiche erfahrung hat auch der vater meines neffens gemacht. er ist einer von denen, die nicht mehr warten. eher das gegenteilige ist der fall. er kann es kaum erwarten für zwei wochen kurz in die heimat zurückzufahren. die familie zu sehen. (noch mehr) geld dazulassen. – auch das kommt uns bekannt vor. unsere eltern haben dasselbe getan.

geschichte wiederholt sich.
geschichte ist iterierbar.

geschichte ist zyklisch.

nun –  wächst eine neue zweite generation auf. sie werden in das meritokratisches system einer leistungsgesellschaft hineingeboren. sie werden als defizitär betitelt. die jobs ihrer eltern werden diesselben sein wie die unserer eltern: alles andere als prestigeträchtig, aber immerhin systemrelevant.

auf den baustellen, in putzfirmen oder fabriken sind sie angestellt – da sie hier im ausland wieder ganz von vorne anfangen. ihren kindern und ihnen wird völlig unkritisch der einzige weg zum sozialen aufstieg präsentiert: leistung, leistung, leistung. vor allem in der bildung. denn nur so ist mensch integriert. nur so ist mensch nützlich. nur so lässt sich der zyklus durchbrechen.

geschichte wiederholt sich.
geschichte ist iterierbar.

geschichte ist zyklisch.

unterschiede sind dennoch zu sehen. dieses mal sind es nicht biographien von abgebrochenen studiengängen wegen studirevolten oder kriegerischen auseinandersetzungen, sondern biographien von hochqualfizierten menschen. jungen menschen, die aufgrund der wirtschaftlichen misslage im eigenen staat überallhin aufbrechen, der zukunft wegen. ihrer zukunft wegen. ihrer kindern zukunft wegen.

                    dies gilt für diesen sehr spezifischen kontext, der grund für das                       verlassen seiner heimat ist für viele heut auch durch krieg                               oder repressionen aufgrund von politischer haltung, religiöser                       oder ethnischer herkunft, sexualität oder geschlechtsidentität 
                    gegeben. dies ist ein zyklus, der sich immer noch wiederholt.                           sich immer wiederholt hat. seine iterierbarkeit zeigt, da der                               kontext jeweils ein anderer ist.


auch sind es wir, der zweiten und dritten generation, die sich in der mehrheitsgesellschaft unsere platz fordern und einnehmen. dies kann eine neue ausgansposition für die jetzt neue aufwachsende zweite und dann die darauffolgende dritte und vierte generation einen unterschied machen.

geschichte wiederholt sich.
geschichte ist iterierbar.

geschichte ist zyklisch.
- die frage ist nur wie?
vor ein paar monaten kam meine nichte zur welt. sie ist die kleine cousine von a.
auch sie ist eine seconda.
vielleicht gibt es zu ihrem ersten geburtstag eine ähnliche reaktion, aber dieses mal von meiner schwester. dann schreibt sie einen text dazu. denn auch hier heisst es:  

geschichte wiederholt sich.
geschichte ist iterierbar.

geschichte ist zyklisch.
- die frage ist nur wie?
-- denn sie sind auch second[a:o]s
                           
                           – genau wie wir.